
Achtziger Jahre: der Krempelmarkt am Reichpietschufer
Berlingeschichte . StadtlebenAus großen Pappkartons wurden Jacken, Hemden, Hosen ausgepackt, Gläser und Vasen standen auf den Holztischen der Marktbuden. Wenn es regnete, wurde das Gelände am Reichpietschufer zur sumpfigen Seenlandschaft. Der Krempelmarkt im Schatten der Mauer zog in den achtziger Jahren Hunderte von Händlerinnen und Händlern und Tausende von Kaufwilligen an. Als Anfang 1989 die Visumspflicht in Polen aufgehoben wurde, entstand am Rande ein neuer Bereich, der „Polenmarkt“. Auf Decken wurden Wurst, Käse, Wodka und Zigaretten aus Polen ausgebreitet, gestickte Decken und Haushaltsartikel. 1989 bauten findige Verkäuferinnen und Verkäufer Stände direkt an der Mauer auf, an denen DDR-Wimpel, sowjetische Uniformen, Rubelmünzen, Medaillen und Mauerstücke angeboten wurden.
Gebrauchtwaren standen hoch im Kurs. Im eingemauerten West-Berlin ließ die Kaufkraft zu wünschen übrig, viele Berlinerinnen und Berliner waren auf billige Elektrogeräte und Haushaltswaren aus zweiter, dritter oder vierter Hand angewiesen. Für andere war es ein „Statement“. Gebrauchte Kleidung machte unabhängig von wechselnden Moden, individuelle Stile konnten gepflegt werden. In Kreuzberg und Charlottenburg gab es eine Vielzahl von Trödel- und Antiquitätenläden, manche gefüllt mit Krempel aus Nachlässen, andere gut sortiert mit Markengeschirr und Schmuck.
Auf dem Krempelmarkt am Reichpietschufer waren die Preise niedrig, mit den teils privaten, teil gewerblichen Verkäuferinnen und Verkäufern konnte gefeilscht werden. Viele Jüngere standen hinter den Marktbuden auf dem Krempelmarkt.
1982 zum Beispiel Beate, damals 24 Jahre alt. „Ich arbeite viel lieber für mich“, sagte sie. „Keine Lust, einen Chef vor mir zu haben.“ Beate bot Kleidung an, den ganzen Winter über war sie an den Wochenenden am Reichpietschufer zu finden, bei minus zehn Grad, bei Schnee und Regen, der den Platz in eine Schlammwüste verwandelte und die Kunden vertrieb. 31 Mark Standmiete waren dafür zu bezahlen. Die Konkurrenz im Geschäft mit alten Lederjacken, Röcken, Kleidern, Blusen war groß. Die Leute hätten weniger Geld, so Beates Erfahrung. Die Hälfte des Umsatzes ging bei ihr sofort in neue Ware, dazu musste sie Standmieten, Transport- und Lagerkosten, Reisen zum Großhändler zahlen. „Das dicke Geschäft“, so Beates Erfahrung, „machen kommerzielle Altkleiderhändler, die irgendwo in Westdeutschland, Italien sitzen. Die kriegen bei den Altkleidersammlungen die Sachen fast kostenlos.“ Fünf Riesen, musste sie ihnen in die Tasche schieben, um ins Geschäft gelassen zu werden, klagte sie. Aber sie wollte weitermachen, eine Ausbildung hatte sie nicht.
Fünfzig Meter weiter hatte Rolf, 23 Jahre, seinen Stand. In seinem Beruf als gelernter Koch verdiente er weniger als auf dem Trödelmarkt. Alle zwei, drei Monate fuhr er nach Holland, deckte sich dort auf Flohmärkten und bei Händlern mit Waren ein, die er dann in Berlin wieder anbot. Am Reichpietschufer verkaufte er u.a. Spielzeugeisenbahnteile. Gelegentlich fuhr er aber auch beladen mit alten Stühlen zu Antiquitätenmärkten. Im Sommer wollte er wieder nach Portugal, um eine Imbissbude aufzumachen.
Nicht alle auf dem Berliner Flohmarkt waren Verkaufsprofis. Gerald, Student, versuchte sein Bafög aufzubessern. Er hatte keinen Marktstand gemietet, sondern einen Tapetentisch aufgebaut. Schallplatten, Zappa antiquarisch, etwas indischer Schmuck, aus Frankfurt von einem Großhändler. „Wenn mehr als fünf Leute am Stand sind, ist hinterher irgendetwas weg. Aber geklaut“, so Gerald. Zwischen zehn und dreißig Prozent lag die Verlustrate durch Diebstähle, das war in den Preisen berücksichtigt. Achtzig Mark hatten Gerald und sein Freund an diesem Sonntag eingenommen. Zu wenig, aber an kalten Tagen lief das Geschäft nicht so gut. Im Winter kamen viele Händler nur, um Kontinuität zu wahren. „Wenn da nichts los ist, kommen sie Leute auch im Sommer nicht“, sagte ein Händler.
Ein junges Pärchen, sie arbeitslos, er in der Woche Kraftfahrer, verdiente sich am Wochenende etwas dazu. Von Abrissunternehmern hatten sie die Stäbe von Treppengeländern gekauft und oben mit einem Frühstücksteller versehen. Fertig war der antik aussehende Blumenständer. Viele Waren bewegten sich aber zunächst in den Kreisen der Händler. Bereits frühmorgens durchsuchten gewerbliche Händler die Stände der privaten Verkäufer nach lukrativen Angeboten. So wanderten die Bunzlau-Kännchen aus dem privaten Nachlass über den Flohmarkt in den Kreuzberger Trödelladen und kamen von dort mit deutlicher Wertsteigerung in den Antiquitätenladen in Charlottenburg, wo die Sammler einkauften. Viele Händler hofften auf den Glückstreffer, Oft war es aber ein Jonglieren an der Pleite entlang.
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