Berliner Handwerk: Die Buchdruckerei Jürgen Müller
HandwerkIn Erinnerung an Jürgen Müller (22. August 1941 – 13. Dezember 2015)
Der Eingang liegt im Bayernring, einer kleinen Seitenstraße der Tempelhofer Manfred-von-Richthofen-Straße. Hinter dem Schaufenster der „Buchdruckerei Jürgen und Michael Müller“ ist eine mannshohe Maschine mit viel Mechanik, Riemen, Schwungrädern und einer Tastatur zu erkennen. Auf dem Boden hinter der Eingangstür steht eine massive Presse mit Handkurbel. Es sind Maschinen und Geräte, die wie Ausstellungsstücke eines Museums wirken. Nur sind sie bei Jürgen Müller noch in Gebrauch. Ihm geht es um die Handwerkskunst. „Die gefertigten Druckerzeugnisse sind individuell, einzigartig und fühlbar besonders“, sagt er.
Mit dem Berliner Buchdruckergehülfen-Verein entstand am 2. Dezember 1862 die erste deutsche Gewerkschaft. Stolz waren sie auf ihre „schwarze Kunst“ und kämpferisch: Schriftsetzer und Buchdrucker hatten durch ihre Arbeit den Zugang zu Wissen und Bildung. Und sie nutzten das.
1450, mehr als 400 Jahre vor der Gewerkschafts-gründung, hatte sich Gutenbergs neue Technik des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durchgesetzt. Vom US-Magazin Time-Life wurde sie 1997 zur bedeutendsten Erfindung des zweiten Jahrtausends gekürt. Generationen von Buchdruckern haben sie genutzt und verfeinert: Einzelne Buchstaben wurden gegossen, dann zu Worten und Sätzen zusammengefügt und mit der Druckpresse auf das Papier gebracht.
Jürgen Müller arbeitet in seiner Tempelhofer Druckerei noch in dieser Gutenbergschen Tradition. Gesetzt wird per Hand oder an der Linotype-Maschine. Zwei Druckmaschinen der Traditionsfirma Heidelberg stehen im hinteren Raum – es ist eine der wenigen Druckereien, die noch mit dem berühmten „Heidelberger Tiegel“ arbeitet. Denn Setzen und Drucken, das ist ein aussterbendes Handwerk. Schon seit Ende der neunziger Jahre gibt es den Ausbildungsberuf des Schriftsetzers nicht mehr, der Mediengestalter hat am PC die Nachfolge angetreten. Wo Druckerei an der Eingangstür steht, stehen heute oft nur noch ein paar Kopierer dahinter.
Jürgen Müller hat die kleine Druckerei in Tempelhof am 15. November 1962 eröffnet. Es gibt Kunden, die seit 50 Jahren zu ihm kommen, die das Handwerk schätzen. Darüber ist er froh. Der gelernte Schriftsetzer nimmt die Buchstaben, die er für ihre Visitenkarten, Briefbögen oder Familienanzeigen braucht, noch selbst in die Hand. Die kleinen Bleilettern entnimmt er den Setzkästen, die in den Schubladen seines Arbeitstisches, dem „Setzregal“, lagern. Im Setzkasten liegen die Zeichen in einer festgelegten Reihenfolge bereit, die meistgenutzten Buchstaben wie das „e“ in den größeren Fächern ganz unten im Griffbereich der Hand. Die Griffe beherrscht Jürgen Müller mit geschlossenen Augen. Ein Kasten, der ältere Frakturschriftarten enthält, hat 116 Fächer, der Antiquakasten für die Schriftarten mit den gerundeten Bögen besitzt 125 Fächer - bei diesen Schriften sind zusätzlich Buchstaben mit Akzentzeichen enthalten. Die Fächer sind unterschiedlich groß, so wie es die Häufigkeit ihres Vorkommens notwendig macht. Großbuchstaben sind in den oberen beiden Reihen abgelegt. Um die Abstände zwischen den einzelnen Worten festzulegen, gibt es Leerräume: „Quadrate“ oder „Gevierte“ in verschiedenen Abstufungen.
Die verschiedenen Größen einer Schrift werden in der Maßeinheit „Punkt“ gemessen. Für gängige Größen gibt es jeweils eigene Setzkästen. Und auch die verschiedenen Schriftarten, ob Bodoni oder Times, benötigen jeweils eigene Setzkästen. Durcheinandergeraten darf nichts, sonst wäre schnelles Arbeiten unmöglich. Vom Schriftsetzer wurden immerhin mehr als 1500 fehlerfrei gesetzte Zeichen pro Stunde erwartet.
Zu Worten und Zeilen zusammengesetzt werden die Zeichen in einem Winkelhaken, abgelegt werden sie dann im Setzschiff. Fertig gesetzte Vorlagen für Visitenkarten bewahrt Jürgen Müller für Nachbestellungen noch gut drei Wochen auf. Anschließend wandern die Buchstaben zurück in die Fächer der Setzkästen.
Längere Texte entstehen an der Linotype-Satzmaschine. Zwei davon stehen in Jürgen Müllers Druckerei, eine gleich neben der Eingangstür zum Laden. Hier, hinter der Fensterscheibe habe er früher oft Texte gesetzt, sagt Jürgen Müller. Die Maschine hat eine Schreibmaschinentastatur, die Buchstabenmatritzen fallen durch eine Röhre und werden zu Zeilen zusammengefügt. Von ihnen wird dann ein Abguss gemacht.
Im Heidelberger Tiegel werden die Texte auf das Papier gebracht. 1850 wurde die heutige Heidelberger Druckmaschinenfabrik gegründet. Mit ihren Schnellpressen machte sie sich einen Namen im Buchdruck, seit Anfang der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts ist die Firma auch im Offsetdruck, der heute verbreitesten Drucktechnik, engagiert. Vom Heidelberger Tiegel, einer 1914 erstmals präsentierten Hochdruckmaschine, wurden bis 1985 rund 165.000 Exemplare hergestellt.
In Jürgen Müllers Druckerei ist eine der beiden Maschinen für den Farbdruck vorgesehen, in einer Maschine ist schwarze Druckfarbe eingefüllt. Die Tiegeldruckmaschinen pressen mit Tonnengewicht die gesetzten Zeilen auf das Papier, erläutert Jürgen Müller, sie können die Buchstaben einprägen. Dazu gehört für den Drucker die sorgfältige Auswahl der Papiere. Büttenpapier für edle Briefbögen oder Hochzeitsanzeigen, Kunstdruckpapier für Faltblätter.
Ein kleinerer Boston-Tiegel steht im vorderen Raum der Druckerei. Bei einem Straßenfest hat Jürgen Müller die schwere Maschine zusammen mit Sohn Michael auf die Manfred-von-Richthofen-Straße hinaus gewuchtet, um dort Bierdeckel zu bedrucken. Viele waren fasziniert, bei dieser Arbeit zuschauen zu können.
Bis Ende 2017 will Jürgen Müller die Druckerei offen halten, das hat er sich vorgenommen. Dann ist er 75 Jahre. Die Arbeit befriedigt ihn bis heute, sie gibt ihm eine Aufgabe. Sein Sohn Michael, ebenfalls gelernter Drucker, hat lange Zeit, auch als er für die SPD schon im Berliner Abgeordnetenhaus saß, in der gemeinsamen Druckerei mitgearbeitet. Das kann er inzwischen nicht mehr, seit Dezember 2014 ist Michael Müller Regierender Bürgermeister.
Museen hatten schon Interesse an den Maschinen in Jürgen Müllers Druckerei gezeigt. Aber er hielt sie lieber in Betrieb. Am 13. Dezember 2015 ist Jürgen Müller verstorben.
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